Koalitionsvertrag unter der Lupe

Bringen die Pläne der Ampel-Koalition mehr soziale Gerechtigkeit?

Die Ampel-Koalition will die Rechte von Kindern im Grundgesetz verankern. Foto: Tanja Kernweiss

Andrea Betz ist sozialpolitische Vorständin der Diakonie München und Oberbayern. Hier analysiert sie den Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP aus Sicht der Diakonie.



Armut

Die Ampel-Parteien haben vereinbart, dass es statt Hartz IV künftig ein Bürgergeld geben soll. Allerdings haben sie noch festgelegt, wieviel Geld die Menschen künftig bekommen sollen. Aktuell liegt der Regelsatz für eine alleinstehende Person bei 446 Euro. Gerade in der teuren Metropolregion München und mit Blick auf steigende Energiepreise ist das viel zu wenig. Darum ist aus unserer Sicht wichtig, dass sich nicht nur der Name der Leistung ändert, sondern auch deren Höhe. Immerhin: Die neue Regierung plant im Koalitionsvertrag Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Damit verbessert sich nach unserer Auffassung die Chance, dass Menschen von ihrer Arbeit auch leben können.

Wohnungslosigkeit und Wohnen

Die Koalition will einen Nationalen Aktionsplan zur Überwindung von Obdach- und Wohnungslosigkeit auflegen, um die Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen. Ein ehrgeiziges Ziel, bei dem die Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus eine zentrale Rolle spielt. Zwar will die neue Regierung die Mittel hierfür erhöhen um die Zielgröße von 100.000 Wohnungen pro Jahr zu erreichen, perspektivisch wird das jedoch den Bedarf an Sozialwohnungen nicht decken. Denn: Aktuell fallen jährlich etwa 80.000 Sozialwohnungen aus der Bindung, während nur circa 25.000 neue Sozialwohnungen entstehen. Hier greifen die Pläne der Ampel einfach zu kurz.

Leider sieht der Vertrag auch keine ausreichenden Instrumente vor, um Wohnen im Bestand günstiger zu machen. München braucht aus Perspektive von Sozialverbänden aber dringend Unterstützung der Bundespolitik im Bereich der Bodenrechtsreform, um dauerhaft bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

Der Koalitionsvertrag sieht außerdem Änderungen im Mieterrecht vor: In sogenannten "angespannten Wohnungsmärkten" sollen die Mieten demnach innerhalb von drei Jahren nur noch um 11 Prozent steigen dürfen, bisher waren es 15 Prozent. Nach Einschätzung unserer Berater*innen, die jeden Tag mit Menschen in sozialen Notlagen arbeiten, sollten die Mieten in München aktuell eigentlich überhaupt nicht mehr steigen. Der Grund: Es gibt bereits weit mehr als 10.000 wohnungslose Menschen in der Metropole, die sich die teuren Mieten nicht leisten können.

Kinder und Jugendliche

Die neue Regierung will unter anderem erstmals eine Kindergrundsicherung einführen, Ganztagsangebote und Schulsozialarbeit ausbauen sowie die Kinderrechte im Grundgesetz verankern. All das sind aus unserer Sicht wichtige und richtige Maßnahmen gegen Kinderarmut und dafür, das Recht der Kinder auf Förderung in den Fokus zur rücken. Das gilt vor allem mit Blick auf die Folgen der Corona-Krise. Wir beobachten in unserer Arbeit, dass viele Kinder und Jugendliche wegen der Pandemie unter Bildungs- und Entwicklungsdefiziten leiden. Das trifft vor allem die, die schon vor der Krise sozial benachteiligt waren. Darum begrüßen wir die Pläne der Regierung. Wir sehen sie als Grundlage dafür, Kinder und Jugendlichen Teilhabe unabhängig von ihrer Herkunft und den finanziellen Möglichkeiten ihrer Familien zu ermöglichen.

Migration

Die Ampel-Parteien planen unter anderem, künftig Hürden beim Familiennachzug für alle Geflüchteten abzubauen. Die bisherige Praxis führt dazu, dass immer wieder Familien auseinandergerissen werden. Das Problem: Solange die Bearbeitung der Visumanträge zum Teil Jahre dauert, bleiben sie nahezu wirkungslos. Die Visumsverfahren müssen daher massiv beschleunigt werden.

Außerdem will die neue Bundesregierung das Konzept der AnKER-Zentren nicht weiterverfolgen. Wir fordern, dass auch Bayern daran anknüpft, und seine 31 ANKER-Zentren abschafft.

Ferner möchten die Regierungsparteien lebensgefährliche Fluchtwege, illegale Zurückweisungen und das Leid an den EU-Außengrenzen beenden. Konkrete Maßnahmen, wie sie das erreichen möchten, beschreiben sie im Koalitionsvertrag leider nicht.

Unser Fazit: Wenn die Pläne der Ampel-Koalition umgesetzt werden, kann sich in den nächsten Monaten und Jahren einiges für geflüchtete Menschen verbessern. Die Vorhaben jedoch als "Neuanfang" zu bezeichnen, wie es die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag tun, ist jedoch nach unserer Einschätzung übertrieben.

Pflege

Die neue Regierung plant, die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte verbessern. Dafür soll u. a. der Pflegebonus eingeführt werden, für den die Ampel-Koalition eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen will.

Auch für pflegebedürftige Menschen sind Erleichterungen vorgesehen. Die Eigenanteile, die sie in der stationären Pflege aufbringen müssen, sollen begrenzt und die Personalschlüssel verbessert werden. Außerdem soll die Einführung einer Pflegevollversicherung geprüft werden. Das sind für uns gute Schritte in Richtung einer solidarischen Pflege, allerdings lässt der Koalitionsvertrag auch Fragen offen, zum Beispiel eine Regelung zu den Investitionskosten, die sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich die Kosten für die pflegerische Versorgung in die Höhe treiben. Leider ist auch eine Verbesserung der Hospiz-/Palliativversorgung für schwerstkranke Menschen nicht vorgesehen.


Zur Person

Seit 2020 steht Andrea Betz als sozialpolitische Sprecherin der Diakonie München und Oberbayern vor. Sie vertritt die Diakonie auch spitzenverbandlich im Dekanatsbezirk München. Andrea Betz studierte Soziale Arbeit und hat einen Lehrauftrag an der Hochschule München inne.