Diakonie verbindet. Wege aus der Einsamkeit.

Interview mit Dr. Laura Wehr, Einsamkeits­forscherin

Dr. Laura Wehr, Einsamkeitsforscherin

Jede zehnte Person fühlt sich in Deutschland einsam. Egal ob im hektischen Alltag oder auch inmitten von vielen Menschen – Einsamkeit kann sich wie ein Raum anfühlen, der immer größer wird.

Es ist eine Leere, die unabhängig von der sozialen Umgebung auftritt und Menschen jeden Alters betrifft. Deshalb ist es umso wichtiger diese Leere nicht einfach hinzunehmen, sondern ihr etwas entgegensetzen und Menschen miteinander zu verbinden. Das ist das Ziel unseres diesjährigen Projektes: „Diakonie verbindet: Wege aus der Einsamkeit“.

Dr. Laura Wehr ist Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum „Zukunft Alter“ der Katholischen Stiftungshochschule München. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung schon seit längerem mit dem Thema, denn „Einsamkeit ist ein individuell und gesellschaftlich unbefriedigender Zustand, dem ich als Wissenschaftlerin gerne entgegenwirken möchte“.

Sie forschen zu Einsamkeit im Alter, betrifft das wirklich nur alte Menschen?

Nein, grundsätzlich kann jeder Mensch im Laufe seines Lebens immer wieder einmal für kürzere Zeit einsam sein. Dies ist zumeist kein Zustand, der als alarmierend betrachtet werden muss. Kritisch wird es, wenn diese soziale Situation zum Dauerzustand wird.

Sind gewisse Altersgruppen besonders gefährdet?

Insbesondere junge Erwachsene und Hochaltrige sind in Bezug auf Einsamkeit Risikogruppen. Beides sind Lebensphasen, wo sehr viele und komplexe biografische Umbrüche stattfinden. Wenn wir an das junge Erwachsenenalter denken, dann sind das zum Beispiel Berufsfindung, Umzug in eine neue Stadt, Familiengründung… Bei Menschen ab 80 Jahren brechen oftmals durch den Tod von Angehörigen und Freund*innen viele soziale Kontakte weg; man ist oft mobilitätseingeschränkt oder es gibt gesundheitliche Einschränkungen. Und viele ältere Menschen sind zudem in ihren Möglichkeiten finanziell limitiert und können nicht mehr so ihrem Sozialleben nachgehen, wie sie es früher vielleicht mal getan haben.

Welche Rolle spielen andere Faktoren wie zum Beispiel Behinderung, Krankheit, sozialer Status oder Migrationsbiografie?

Soziale Herkunft spielt insofern eine Rolle, als sie sich auf die Erwerbsbiografie auswirkt, auf die Bildungsbiografie und letztlich dann auch auf das Einkommen, das man für die Freizeitgestaltung, das Wohnen und im Alter dann auch für die Pflege zur Verfügung hat. Behinderung ist definitiv ein Risikofaktor, weil damit oft leider mangelnde Inklusion verbunden ist. Bei Menschen mit Migrationsgeschichte ist es so, dass wir das Risiko der Vereinsamung vor allem in den höheren Altersgruppen sehen. Das hat damit zu tun, dass diese Menschen in Zeiten gesellschaftlichen Wandels, neuer beruflicher Anforderungen und sich verändernder Familienbilder stärker auf sich selbst zurückgeworfen sind und zudem oft nicht über die nötigen Sprachkenntnisse verfügen, um neue Kontakte zu schließen. Dazu kommt eine Zerrissenheit zwischen diesem: Wo gehöre ich hin? Ist es das Land, in dem ich jetzt schon mehrere Jahrzehnte lebe, oder das Land, aus dem ich ursprünglich komme?

Wie definieren Sie denn Einsamkeit aus einer gesellschaftlichen Perspektive?

Generell müssen wir erst einmal unterscheiden zwischen Alleinsein, sozialer Isolation und Einsamkeit. Alleinsein bezeichnet wertneutral einen Zustand, in dem eine Person mit sich selbst allein ist. Damit ist keinerlei Wertung verbunden. Soziale Isolation beschreiben wir als eine Kategorie, die wir durch Studien objektiv messen können. Wir können die Menge und die Häufigkeit der Kontakte abfragen und damit skalieren. Einsamkeit dagegen ist immer ein subjektives Empfinden, individuell unterschiedlich und ist nicht immer deckungsgleich mit sozialer Isolation: Denn jemand, der sozial isoliert ist und daher wenige soziale Kontakte hat, muss sich nicht unbedingt einsam fühlen, sondern kann unter Umständen sehr zufrieden mit sich und seinem Sozialleben sein. Umgekehrt könnte es aber sein, dass jemand große Einsamkeitsgefühle verspürt, bei dem wir nie auf diesen Gedanken kommen würden, weil diese Person sehr gut sozial eingebunden ist und über viele Kontakte verfügt, sei es beruflich, privat und/oder auf Social Media.

Welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat Einsamkeit?

Einsamkeit hat nicht nur direkte Auswirkungen auf die körperliche, mentale und psychische Gesundheit, sondern auch gesellschaftliche Folgen: Denn Menschen mit erhöhtem Einsamkeitsgefühl ziehen sich oft sozial zurück, misstrauen ihrem Gegenüber des Öfteren und haben darüber hinaus oft auch ein geringeres Vertrauen in politische Institutionen. Studien belegen sogar, dass einsame Menschen eher anfällig für Verschwörungstheorien sind.

Welche gesundheitlichen Folgen hat Einsamkeit?

Wir wissen aus diversen Studien, dass eine hohe Einsamkeitsbelastung zu einer unterdurchschnittlichen Gesundheit führt. Das Spektrum reicht von Schlafstörungen, Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz, Erkrankungen des Bewegungsapparats, Regulationsstörungen des Immunsystems bis hin zu Angststörungen, Depressionen und Suizidalität. Und wir wissen auch: Je länger dieser Zustand anhält, desto schwieriger wird es, sich wieder daraus zu befreien. Insofern braucht es mehr Präventionsmaßnahmen und mehr Interventionsmaßnahmen gegen Einsamkeit.

Und wie wirkt sich all dies auf unser Gesundheitssystem aus?

Unser Gesundheitssystem wird viel stärker nachgefragt. Arztbesuche werden häufiger wahrgenommen und damit sind letztlich auch viele Kapazitäten gebunden, denn gerade ältere Menschen gehen oft auch zur vertrauten Hausarztpraxis, weil sie jemanden zum Reden brauchen. Ähnlich ist es beim Friseur. Wir bräuchten insgesamt viel mehr Begegnungsorte, an denen sozialer Austausch stattfindet. Eine erste Idee sind die sogenannten „Ratschkassen“, die im Einzelhandel schon vereinzelt eingeführt wurden, um Gesprächen wieder mehr Raum zu geben und Menschen zu signalisieren: Hier hat jemand für Dich Zeit zum Reden!

Warum wird Einsamkeit insbesondere bei jüngeren Menschen noch nicht gesellschaftlich wahrgenommen oder gar stigmatisiert?

Der Trend geht in zwei Richtungen: Zum einen ist das Thema seit Corona stärker im gesellschaftlichen Bewusstsein; es gibt zunehmend eine gesellschaftliche, wissenschaftliche, mediale und öffentliche Wahrnehmung des Themas. Auf der anderen Seite scheuen sich aber immer noch sehr viele, nicht nur jüngere Menschen, über ihre Einsamkeitsempfindungen zu sprechen. Und das hat damit zu tun, dass wir eine Gesellschaft sind, in der soziale Medien einen hohen Stellenwert haben. Es wird sehr schnell etwas gepostet, geliked – und damit demonstriert, welche und wie viele Kontakte ich habe, wie viel ich unterwegs bin, dass ich auf Reisen bin, viele Freunde habe, enorm beschäftigt und sozial eingebunden bin. Und da passt es natürlich überhaupt nicht ins Bild, wenn man selbst aus dem Rennen fällt oder zugeben muss, dass man da nicht mehr mitkommt.

Unsere Gesellschaft ist digital verbunden wie noch nie, jedoch fühlt man sich genau in dieser Realität manchmal am einsamsten. Warum ist das so?

Wir erfahren seit Jahrzehnten in allen Lebensbereichen eine starke Beschleunigung. Und das hat Auswirkungen auf alle Bereiche unserer Lebenswelt. Ein Beispiel dazu: Früher habe ich für eine berufliche Anfrage einen Brief geschrieben. Bis die Antwort zurückkam, hat das unter Umständen eine Woche gedauert. Heute werden wir ungeduldig, wenn wir nicht innerhalb von 24 Stunden eine Antwort haben. Im Privaten ist das ähnlich, auch dort besteht der Druck, auf alles schnell reagieren zu müssen. Und damit auch zeigen zu müssen, wir nehmen aktiv am Leben teil.

Welche Ansätze gibt es denn, um Einsamkeit zu überwinden oder zumindest zu mildern?

Als Erstes muss unser Bewusstsein für das Thema stärker geschult werden. Wir müssen aufmerksamer für unser vertrautes Gegenüber werden, aber auch für alle anderen Menschen, denen wir im Alltag begegnen. Man könnte schon Kinder und Jugendliche dafür sensibilisieren. Grundsätzlich wissen wir, dass soziale Beziehungen helfen, um Einsamkeit zu verhindern bzw. dieser entgegenzuwirken. Und zwar auf allen Ebenen, also in der Familie, im beruflichen Umfeld, durch Freundschaften, im Verein, durch bürgerschaftliches Engagement. Wichtig ist aber, dass diese uns nur schützen können, wenn wir sie als verlässlich und qualitativ hochwertig empfinden.

Und wie erreicht man genau diese Menschen, die kein Netzwerk haben?

Es gibt leider viele Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen in ihre vier Wände zurückgezogen haben und die nur schwer erreichbar sind. Dies ist insbesondere bei älteren Menschen der Fall. Ein Ansatz ist es, sie über Präventive Hausbesuche zu erreichen; ein neuer und vielversprechender Weg sind auch Streetwork-Projekte, wie z.B. in München das SAVE-Projekt, um diejenigen anzusprechen, die noch mobil und im öffentlichen Raum unterwegs sind. Da sehen wir große Erfolge, weil das eine passgenaue und einfühlsame Ansprache im öffentlichen Raum ist, die oftmals zu einer nachfolgenden Beratung und zudem auch zu einer stärkeren sozialen Einbindung, etwa in die Alten- und Servicezentren oder ins Bürgerschaftliche Engagement führen kann.

Das sind Angebote, die gezielt ältere Menschen ansprechen. Aber wie erreicht man die jüngeren Generationen, die Einsamkeit mitten in der modernen Arbeitswelt verspüren und auf den ersten Blick nicht als Paradebeispiel für Einsamkeit gelten?

Wir brauchen zunächst einmal mehr Aufklärungskampagnen und Infoveranstaltungen für alle Altersgruppen, z.B. auch gemeinschaftsbildende Schulstunden, bei denen mehr Raum für solche Themen entsteht. Gerade in Schulen muss es auch geschützte Räume geben, in denen man sich entsprechend äußern kann und nicht stigmatisiert wird. Wir brauchen aber definitiv auch einen Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung in allen Altersgruppen sowie bessere strukturelle Rahmenbedingungen, zum Beispiel muss im ländlichen Raum der öffentliche Personennahverkehr wieder gestärkt und ausgebaut werden. Wir brauchen zudem mehr innovative und generationenverbindende Wohnformen, außerdem mehr intergenerationelle Begegnungsstätten, eine Förderung des Vereinswesens und eine stärkere Stadtteilentwicklung. Für all dies braucht es verstärkt finanzielle Förderung und entsprechendes Personal, aber es braucht immer auch das Engagement des Einzelnen, etwa im Bürgerschaftlichen Engagement und vor allem auch in der Nachbarschaft – und zwar sowohl im städtischen, als auch im ländlichen Raum. Beim Thema Einsamkeit wir alle gefragt!

Über das Projekt

Die diakonischen Träger der Bezirksstelle München, Weilheim, Bad Tölz wollen das Thema Einsamkeit verstärkt in den Fokus rücken. Es geht es darum, zu enttabuisieren, Barrieren abzubauen, auf bereits bestehende Angebote aufmerksam zu machen, aber – bei Bedarf – auch neue zu entwickeln, um Menschen aus der Einsamkeit zu holen.

Weitere Information finden Sie auf der Website der Bezirksstelle. 


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