Bundesverfassungsgericht: Der Suizid ist ein Grundrecht

Wie sich die Arbeit in der Diakonie verändern könnte - Ein Kommentar

Michael Frieß

Die Diakonie steht für das Leben. Sie stärkt Menschen möglichst frei und selbstbestimmt zu leben. Wie aber können Mitarbeitende damit umgehen, wenn Klient*innen ihr leben selbst beenden möchten? Pfarrer Michael Frieß nimmt in seinem Kommentar Stellung dazu.

Das höchste Gericht der Bundesrepublik hätte es nicht klarer sagen können:
Jeder Mensch hat in Deutschland das Recht auf Suizid.

Er muss weder unheilbar krank sein, noch ein hohes Lebensalter erreicht haben. Er muss sich nicht dafür rechtfertigen. Jeder darf, was er ohnehin kann: Sein Leben selbst beenden. Damit gilt bei uns derzeit die liberalste Sterbehilferegelung der Welt.

Zudem stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Gesellschaft dem Menschen auch Möglichkeiten bieten muss, sein Grundrecht wahrzunehmen.

Eine einzige Einschränkung bleibt bestehen: Der Wille muss ernstlich sein, der Mensch muss begreifen, welche Konsequenzen sein Suizid für sich und sein Umfeld hat.

Was bedeutet dies für unsere Arbeit in der Altenhilfe, der Sozialpsychiatrie oder den Angeboten für Menschen ohne Obdach?

Klient*innen werden in den nächsten Monaten und Jahren sich mit dem Sterbewunsch an Mitarbeitende wenden und nachfragen: Helft Ihr mir, darf ich den Suizid in Eurer Einrichtung begehen, könnt Ihr mir den Kontakt zu einer Sterbehilfe-Organisation herstellen? Auch mit anderen Menschen, die in unserer Einrichtung wohnen, macht der Suizidwunsch der Nachbar*in etwas: Darf die das, hier im Zimmer neben an? Wird es einen Werther-Effekt geben, wenn sich eine Klient*in dafür entschied, diesen Weg zu gehen?

Für mich scheint damit etwas in Gang zu kommen, was auf der einen Seite ganz konsequent fortführt, wofür wir stehen: Wir wollen Menschen jeden Alters und mit jeder Einschränkung stärken, möglichst frei und selbstbestimmt zu leben. Wenn diese Menschen dann aber entscheiden, dass sie das nicht mehr wollen … leben …?

Die Diakonie steht für das Leben

Auf der anderen Seite ringen wir in unserer täglichen Arbeit mit der Frage, was das Beste für die Klient*innen ist. Was ist wirklich der ernstliche Wille eines Jugendlichen mit Suchterkrankung? Kommt der Sterbewunsch eines Menschen mit chronischer Depression allein von der Krankheit oder ist es das, was der Mensch wirklich will? Wo glauben wir, es besser zu wissen? Wo müssen wir aus pädagogischen Gründen paternalistisch sein, wo müssen wir Leben erhalten?

Die Diakonie steht für das Leben. Sie fördert alles, was das Leben verbessert und kämpft gegen Lebensbedingungen, die ungerecht und unaushaltbar sind. Nun müssen wir in den Teams darüber sprechen, wann und in welchen Situationen wir akzeptieren müssen, dass Klient*innen nicht mehr leben wollen. Das tut weh: Für uns hat der Suizidwunsch Anteile einer Kränkung und erzeugt das Gefühl, dass wir mit aller professioneller Kompetenz es nicht schafften, das Leben erträglich zu machen. Es ist eine Zurückweisung unserer Hilfe, unseres Bemühens. Auch für Angehörige ist trotz allen Verständnisses der Sterbewunsch eines anderen immer auch ein Affront.

Und doch können wir das Leben der Klient*in nicht selbst leben und müssen manches zulassen, auch wenn wir für uns selbst anders entscheiden würden.

Für die Diakonie sollte diese neue Situation bedeuten:

  • Mitarbeitende von Diakonie und Kirche dürfen im Dienst niemals die Aufgaben aktiver Sterbehelfer:innen übernehmen. Wir müssen in unserer Rolle klar sein: Wir pflegen, fördern, erhalten und begleiten. In manchen Fällen kann es aber auch sein, dass wir den Kontakt zu einer Sterbehilfe-Organisation herstellen oder beim Suizid im Zimmer bleiben, um den Menschen bis zum letzten wachen Moment zu begleiten. Wir dürfen aber nie das tödliche Medikament vorbereiten und ans Bett bringen.
    Diese Handlung ist nicht verwerflich, darf aber nicht unsere helfende Rolle infiltrieren. Alle Bewohner:innen müssen sicher sein, dass von uns keine Gefahr ausgeht.
  • Wenn es das Grundrecht auf Suizid gibt, muss es auch in unseren Häusern möglich sein, dieses Grundrecht wahrzunehmen. Wir können uns als Kirche und Diakonie nicht weltweit für den Schutz von Grundrechten einsetzen (etwa für Frauen- oder Kinderrechte oder ganz München zur EM in Regenbogenfarben tauchen) und dann in den eigenen Einrichtungen Grundrechte beschränken und nur diese zulassen, die wir voll mittragen.
  • In den Bundestag wurden sechs Gesetzesentwürfe eingebracht, die die zu freie und letztlich völlig ungeregelte Sterbehilfe-Situation in Deutschland regeln sollen. Drei Entwürfe sehen vor, dass es wie bei der Schwangerschaftskonfliktberatung Beratungsstellen gibt, in die ein Suizidwilliger gehen muss, bevor ihm eine Ärztin straffrei helfen darf. In manchen Entwürfen ist auch eine Wartefrist von wenigen Wochen zwischen Beratung und Suizid vorgesehen.

    Wir als Diakonie müssen solche Beratungsstellen aufbauen. Diese sind lebenserhaltende Maßnahmen. In der Schweiz nehmen die meisten Menschen, deren Sterbewunsch von einem Arzt geprüft und das Rezept ausgestellt wurde, diese Möglichkeit nicht wahr. Zu dürfen, wenn man es nicht mehr aushält, einen Ausweg für sich zu sehen, ist offenbar ein derart befreiendes Gefühl, dass das Leben mit all seinen Einschränkungen in den meisten Fällen weiter ertragen werden kann.

  • Grade dann, wenn Menschen sich so bedrängt sehen, dass sie nicht mehr weiterleben können, müssen wir als Diakonie bei ihnen sein und sie beraten.

    Wir müssen das, was in der Gesellschaft kommen wird, in unseren Teams zum Thema machen. Wie ist die innere Haltung der Kolleg:in, wie stehen wir als Träger dazu, wie könnte es in unserer Einrichtung ablaufen? Was können wir zulassen, was ist mit unserer Grundhaltung nicht vereinbar?

  • und wir dürfen im Blick haben, dass es nach dem christlichen Glauben eben nur der vorletzte Schritt einer Existenz ist, über den wir hier sprechen. Das Leben jedes Menschen ist unbedingt wertvoll, endet aber nicht mit dem Tod.



Michael Frieß


Diakonie München und Oberbayern - Innere Mission München e.V.

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