Kammerspiele: Eine Bühne für die Pflege
Diskurs über Care-Arbeit
Mit ihrem MK: Campus öffnen die Müncher Kammerspiele einen Raum für die Menschen, deren Alltagsrealitäten sonst auf der Bühne verhandelt werden. Ein dreitägiger Campus widmete sich dem Thema Care-Arbeit und Pflegenotstand. Mit dabei: Schüler*innen und Lehrkräfte der Evangelischen PflegeAkademie.
Wir schreiben das Jahr 2050. Die Welt ist ein überwiegend gerechter und ökologisch ausgewogener Ort. Lou, Zora, Apeksha und eine Handvoll weiterer Frauen und Männer sind Mitglieder der sogenannten"Gemeinschaft", einer fiktiven Zusammenkunft von Menschen unterschiedlichster Herkunft. Ihren neuen Lebensraum beschreiben sie unter anderem als bunt und respektvoll, aber auch als gefährdet und begrenzt.
In der Gruppe tauschen sie sich über verschiedene Lebensereignisse aus, die starke Emotionen bei ihnen ausgelöst haben. Dazu gehören etwa das Ableben einer alten Dame im Pflegeheim oder der Tod eines ungeborenen Kindes auf der Säuglingsstation. Sie beschreiben ihre Gefühle genauso eindringlich wie die Gerüche und Geräusche während der damaligen Situation. Betroffenheit und Trauer liegen in der Luft.
Engagement und Interaktion in persönlichen Begegnungen
Im wahren Leben ist sich der Großteil dieser Utopie allerdings noch nie begegnet. Ihre echten Identitäten haben Laura, Verena und Anna gegen ein Fantasie-Ich auf den Brettern eingetauscht, die sprichwörtlich so gerne die Welt bedeuten. "House of Interstitium" heißt das dialogbasierte Rollenspiel, das die Performerin Magdalena Emmerig und ihre Kollegen Leo Heinik und Jan Erbelding an diesem Nachmittag in den Münchner Kammerspielen anleiten. Für zwei Stunden kommen Auszubildende aus der Evangelischen PflegeAkademie sowie zahlreiche Nachwuchskräfte anderer Münchner Schulen zusammen, um sich über jegliche Formen von Pflege auszutauschen. Auf der Probebühne 1 bekommen sie dafür angemessenen Raum zum Sprechen; im wörtlichen und übertragenen Sinn.
"Der MK: Campus ist ein Reflexions- und Aktionsraum in den Münchner Kammerspielen. Hier öffnet das Theater seine Räume und Möglichkeiten für Menschen, deren Alltagsrealitäten auf der Bühne verhandelt werden", erklärt Julia Maier, zuständig für die künstlerische Bildung. Verschiedene Aufführungen des Hauses werden dabei einem Reality Check ausgesetzt. So auch das aktuelle Theaterstück "Who Cares – Können Roboter pflegen". Menschen aus Pflegeberufen kommen mit Schauspieler*innen der Produktion ins Gespräch: "Die gesellschaftliche Relevanz von Theater wird damit für alle spürbar und das Theater zu einem Ort für viele", ergänzt Maier.
Das Stück "Who Cares" hat den dreitägigen Campus mit einem intimen und emotionsreichen ersten Akt eröffnet: ein Mann allein auf der Bühne. Er hat sich vollständig ausgezogen. Nun trägt er eine Windel für Erwachsene und kann es nicht fassen: Soeben war er jung und agil, jetzt ist er ständig auf Unterstützung angewiesen, lebt abhängig von fremder Hilfe in einem Pflegeheim. Um ihn herum: Pflegekräfte, die von der Öffentlichkeit während der Corona-Pandemie wiederholt als "stille Helden" gefeiert worden waren. Eine Ironie der Begrifflichkeit? Denn wer still ist, so die These des Stücks, agiert altruistisch bis zur Selbstlosigkeit und will kein Dankeschön, keine "laute" Wahrnehmung, will weder Anerkennung noch (monetäre) Wertschätzung, oder?
Forever Young
Das Theaterstück konfrontiert sein Publikum mit den offensichtlich mehr als unbequemen Fragen einer Forever-Young-Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die zunehmend überaltert, aber weder ausreichend Ressourcen, Bereitschaft noch Zeit aufweist, sich adäquat "um die Alten zu kümmern", so eine nicht namentlich genannte Ethikerin, die für das Rechercheprojekt "Who Cares" im Vorfeld interviewt worden war.
Können Assistenzroboter demzufolge eine sinnvolle Unterstützung sein? Diese und andere Themen diskutieren die fiktiven Pflegekräfte, Bewohner*innen, Angehörigen sowie Projekt- und Marketingleiter*innen auf Basis echter Interviews, die im Vorfeld mit Vertreter*innen der entsprechenden Gruppen geführt worden sind.
Katharina Matic, Schulleiterin der Evangelischen PflegeAkademie, hat sich das Stück mit einem Teil der Lehrkräfte angesehen und ist begeistert: "Es war bewegend und ein schöner Abend!" Ihre Kollegin Gertraud Mayer, die als Teamleiterin für die Zentrale Praxisanleitung zuständig ist, plädiert sogar dafür, dass sich jeder diese Inszenierung ansehen sollte, nicht nur Personal aus dem Gesundheitswesen.
Beim MK: Campus haben die Kammerspiele versucht, den Pflegekräften durch verschiedene Formate wie Film-, Theater- und Tanzworkshops eine Bühne zu geben. Denn nicht nur für die Kunst- und Kulturszene, sondern auch für das Gesundheitswesen, gilt besonders in Zeiten von Corona:
#OhneUnsWirdsStill.
Petra Umlauf
Diakonie München und Oberbayern - Innere Mission München e.V.
Landshuter Allee 40
80637 München