60 Jahre Bodelschwingh-Haus

Eine Bleibe für haftentlassene und wohnungslose Männer

Im Münchner Bodelschwingh-Haus gibt es 35 Einzelzimmer.

Seit 60 Jahren gibt es das Bodelschwingh-Haus im Münchner Bahnhofsviertel. Die Männer, die hier für zwei Jahre wohnen, haben auf der Straße oder in Notunterkünften gelebt, viele von ihnen wurde gerade aus der Haft entlassen. Für sie ist das Haus vor allem eine Chance.

Von außen ist das Bodelschwingh Haus eher unscheinbar: sechs Stockwerke, gelber Putz. Im Trubel des Bahnhofsviertels geht die Unterkunft für haftentlassene und wohnungslose Männer unter. 35 Männer leben hier in Einzelzimmern, verteilt auf die fünf oberen Etagen. Sie teilen sich Küche, Gruppenraum, Toiletten und die Duschen. Der jüngste Bewohner ist derzeit 23 Jahre alt, der älteste über 70.

Einige von ihnen haben auf der Straße gelebt oder waren in Notunterkünften untergebracht, aber die meisten wurden gerade aus der Haft entlassen. "Die Bewohner waren wegen unterschiedlichster Delikte inhaftiert. Dazu zählen zum Beispiel Schwarzfahren aber auch schwere Körperverletzung, eine Sexualstraftat oder auch Mord", erklärt Sebastian Stockmeier, der das Bodelschwingh-Haus gemeinsam mit Laura Schurkus leitet. "Wir schauen uns jeden Einzelfall an und entscheiden dann, ob es passt und wir den Mann bei uns aufnehmen können", erklärt sie. "Grundsätzlich wollen wir allen eine Chance geben." Die beiden wissen: Danach kommt oft nicht mehr viel, was diese Menschen auffängt.

Gründung vor 60 Jahren

Im Juli 1962 wurde das Bodelschwingh-Haus eröffnet. Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer – kamen hier vor allem Jugendliche und junge Erwachsene aus der damaligen DDR unter. Neben Übernachtung und Frühstück erhielten sie hier auch ein Abend- oder Mittagessen. Alkohol war damals komplett verboten. Geleitet wurde das Haus von einem Pastorenehepaar, das als "Heimeltern" auch selbst im Bodelschwingh-Haus lebte. Schon früh bildete sich ein Schwerpunkt in der Arbeit mit haftentlassenen Menschen heraus.

Das Bodelschwingh-Haus war und ist ein Spiegel der sozialen Herausforderungen und Ideen seiner Zeit. Aus Dreibettzimmern wurden Einzelzimmer. Auch die Arbeit mit den Klienten wandelte sich: In den 1970ern lauteten die Schlüsselbegriffe "Hilfe zur Selbsthilfe" oder "Stärkung des Realitätssinns". Im Lauf der Jahre übernehmen Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen die Begleitung der Bewohner. Eine psychologische und eine juristische Beratung wurden etabliert.

Offene Türen

Inzwischen arbeitet auf jedem Flur ein Sozialpädagoge oder eine Sozialpädagogin mit den Klienten. Die Türen zu den Büros stehen in der Regel immer offen. Eine geschlossene Tür an der man klopfen muss – für viele Bewohner wäre das eine unüberbrückbare Hemmschwelle. Es ist ein junges, engagiertes Team, das hier gemeinsam arbeitet, offen und unvoreingenommen, das aber auch nichts beschönigt.

"Uns ist es wichtig, dass wir uns auf unsere besondere Klientel mit ihrer Lebenswelt einlassen. Dafür braucht es Ausdauer und Geduld und manchmal auch unkonventionelle Wege", sagt Laura Schurkus. Sie und ihre Kolleg*innen sind oft die ersten, die den Männern auf Augenhöhe entgegenkommen.

Therapiemöglichkeiten

"Obdachlose und vor allem auch haftentlassene Menschen haben oft die Erfahrung gemacht, dass man auf sie herunterschaut", sagt auch Gordon Bürk, Geschäftsführer des Evangelischen Hilfswerks. Das gelte vor allem für Sexualstraftäter. Eine Gruppe, die anders als in vielen anderen Einrichtungen der Strafentlassenenhilfe, auch im Bodelschwingh-Haus unterkommt. "Wir haben schon immer darauf hingewiesen, dass gerade für diese Menschen bei ihrer Entlassung ein Therapieangebot zur Verfügung stehen sollte - gerade aus der Perspektive des präventiven Opferschutzes." Doch gerade hier gab es lange so gut wie keine Therapiemöglichkeiten, so Gordon Bürk. 2008 griff das Bayerische Justizministerium diesen Gedanken auf und baute gemeinsam mit dem Evangelischen Hilfswerk die Fachambulanz für Sexualstraftäter in München auf – die erste ihrer Art in Bayern. Sie ist, wie Gordon Bürk sagt, "ein Stück weit aus der Arbeit des Bodelschwingh-Hauses hervorgegangen".

Der heutige Geschäftsführer kennt die Einrichtung gut. In den 90er-Jahren hat er sie selbst für vier Jahre geleitet. Damals war es für ihn auch verpflichtend dort zu wohnen. "Heute ist das unzeitgemäß, aber für mich ist das rückblickend eine wichtige Erfahrung in meinem Leben", sagt er.

Auch mal auf die Nerven gehen

Ein Sozialpädagoge ist für je sieben Bewohner zuständig. "Das hört sich nach wenig an. Ist es aber nicht", sagt Sebastian Stockmeier. Schwierigkeiten ziehen sich wie ein roter Faden durch die Biografien der Bewohner: In manchen Fällen sind die Eltern früh gestorben oder sie sind im Heim aufgewachsen. Fast alle haben Gewalt erlebt und kennen keine Kontinuität. "Das rechtfertigt keine Straftat, aber wenn man sich die Lebenswege anschaut, versteht man in vielen Fällen, warum jemand zu uns kommt und Unterstützung braucht", sagt Sebastian Stockmeier.

Manchmal – das gibt er zu – falle es ihm schwer, eine Perspektive für die Zeit nach dem Bodelschwingh-Haus zu vermitteln. Die eigenen vier Wände – in München sind sie ohnehin oft schwierig zu finden. Für Menschen in sozialen Notlagen sind sie oft unerreichbar.

Zwei Jahre können die Männer im Bodelschwingh-Haus bleiben. So sieht es die Vereinbarung mit dem Kostenträger vor. Bei den Biografien, die viele hier mitbringen, ist das keine lange Zeit. Es reiche nämlich nicht einfach, ein Zimmer zu wollen, wichtig sei auch an sich und seinen Themen zu arbeiten, so Sebastian Stockmeier. "Die Bereitschaft bringt nicht jeder gleich mit. Unsere Aufgabe ist es zu motivieren. Wir gehen den Männern manchmal auch bewusst 'auf die Nerven.' Das gehört hier schon dazu", erklärt der Pädagoge. Für Männer, die mehr Zeit brauchen, um an ihrer Situation zu arbeiten gibt es in München inzwischen aber auch zwei Außenwohngruppen.

Auch wenn die Ausgangsbedingungen schwierig sind, gelingt es vielen Bewohnern an sich zu arbeiten und einen Neustart zu wagen. "In den vergangenen 60 Jahren haben wir vielen Menschen wieder auf den Weg geholfen, nachdem vieles in ihrem Leben schiefgelaufen ist. Darum ist das Jubiläum des Bodelschwingh-Hauses ein Grund zu feiern. Wir dürfen nicht vor sozialen Problemen kapitulieren, sondern müssen Antworten finden. Das Bodelschwingh-Haus ist seit 60 Jahren so eine Antwort", sagt Gordon Bürk.

Und die Geschichte geht weiter. Gerade arbeiten Laura Schurkus, Sebastian Stockmeier und das Team des Hauses an einer Neukonzeption des Bodelschwingh-Hauses. Wenn alles klappt, kann ab 2023 umgebaut werden.

von: Christine Richter

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