Trauerbegleiterin zum Umgang mit Schuldgefühlen
"Bevor ich mich schuldig fühle, habe ich den Schuldvorwurf zunächst gedacht."

Tanja M. Brinkmann ist Trauerbegleiterin. Sie sagt: "Der überwiegende Teil von Trauerprozessen sind von Schuldfragen begleitet." Wie Schuldvorwürfe entstehen, erklärt die Soziologin im Interview.
Frau Brinkmann, Sie sind promovierte Soziologin und zertifizierte Trauerbegleiterin. Wie muss man sich Ihr Aufgabenfeld vorstellen? Welche Menschen nehmen Ihre Beratung in Anspruch?
TANJA M. BRINKMANN: Die Menschen, die in die Einzel- oder Paartrauerberatung kommen, haben meist einen wichtigen oder den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren: das Kind, die Partnerin, den Partner oder einen Elternteil.
Schuld- und Trauergefühle geben sich oftmals die Hand – etwa nach der Entscheidung, einen Angehörigen in die Fürsorge eines Pflegeheimes übergeben zu haben, oder nach einem Todesfall: Woher kommen diese Gefühle?
Sie haben Recht, dass der überwiegende Teil von Trauerprozessen von Schuldfragen begleitet sind. Allerdings ist es ein Missverständnis, dass sich Trauer und Schuld lediglich auf der Gefühlsseite zeigen. Sowohl Trauer also auch Schuldvorwürfe sind ebenfalls eine Kopfsache. Bevor ich mich schuldig fühle zum Beispiel, weil meine Partnerin sich das Leben genommen hat, habe ich den Schuldvorwurf zunächst gedacht. Also etwa: "Wenn ich doch nicht so viel mit mir beschäftigt gewesen wäre und ihr besser zugehört hätte, dann hätte Sie sich nicht getötet." Ich spreche deshalb meist nicht von Schuldgefühlen, sondern von Schuldvorwürfen oder Beschuldigungen.
Wie entstehen nach Ihrer Erfahrung diese Vorwürfe?
Es gibt zwei Gründe für Schuldvorwürfe. Der erste Grund sind Regelverletzungen. Ein Sohn hat vielleicht seiner Mutter versprochen, dass sie bis zum Schluss zu Hause leben darf. Dann wird die Mutter allerdings dement und dabei auch noch aggressiv. Die Versorgung überfordert, und der Sohn entscheidet – obwohl er es sich anders vorgenommen und ein anderes Versprechen gegeben hat – seine Mutter in eine Pflegeeinrichtung geben. Dieses kann zu Selbstbezichtigungen führen oder seine Mutter kann ihn beschuldigen, dass er sie in eine Altenpflegeeinrichtung abgeschoben hat. Der zweite Grund für Schuldvorwürfe sind nicht befriedigte Bedürfnisse. In Krisen- und Ausnahmesituationen unseres Lebens können wir wesentliche Bedürfnisse wie das Bedürfnis nach Erklärung oder Verstehen nicht befriedigen.
Wie kann man konstruktiv mit solchen Situationen umgehen?
Bei Menschen, die sich mit Schuldvorwürfen martern, versucht das Umfeld sehr häufig, die Betroffenen von ihren Vorwürfen zu befreien – etwa, indem man diese ausreden oder relativieren möchte. Das ist allerdings nicht hilfreich. Vor Kurzem berichtete eine Frau: "Nachdem ich meinen Vater ins Pflegeheim gegeben habe, hat mir mein gesamtes Umfeld bestätigt, dass es die richtige Entscheidung sei und dass ich mir keine Schuldvorwürfe machen müsse. Aber ich mache sie mir trotzdem." Erst einmal ist es wesentlich, dass Sie niemanden Schuldvorwürfe nehmen können. Wenn sich jemand die Schuldvorwürfe nehmen kann, dann nur die Person selbst, die sich bezichtigt. Das geschieht bei Regelbrüchen häufig durch Empathie für sich selbst: Kann ich mir verzeihen, dass ich meine Regel, Mama zu Hause sterben zu lassen, verletzt habe? Oder muss ich mich dafür bestrafen? Wenn ja, wie lange? Bei der zweiten Art von Schuldvorwürfen – den nicht befriedigten Bedürfnissen – empfehle ich einen konstruktiven Umgang mit dem Thema: Vielleicht finde ich eine Erklärung, die nicht über Beschuldigungen geht, oder darüber, dass ich den Bruch in meinem Leben in meine Lebensgeschichte integriere.
Wie lange dauert es, bis Menschen einen Schicksalsschlag wie den Verlust eines Menschen und Schuldvorwürfe verarbeitet haben?
Das geht nicht von heute auf morgen, sondern ist meist ein langfristiger Prozess. Aber Eltern finden Erklärungen, wieso ihre Kinder gestorben sind. Eine Mutter, die ihren Sohn bei einem Verkehrsunfall verloren hat, und stark mit Beschuldigungen beschäftigt war, erzählt heute, dass es ein verdammt bescheuerter Zufall war, dass ihr Sohn genau zu dieser Zeit an diesem Ort war, wo der Verkehrsunfall geschah. Durch den Kontakt mit anderen Eltern, die auch ein Kind verloren haben, ist sie zu dem Ergebnis gekommen, dass nur besondere Kinder sterben. Das tröstet sie. Seitdem braucht sie keine Beschuldigungen mehr. Schuldvorwürfe sind oft erstmals eine Überlebenshilfe in einer absoluten Ausnahmesituation des Lebens und deshalb sinnvoll. Deshalb sage ich häufig: "Lasst den Leuten ihre Schuldvorwürfe." Einen konstruktiven und lösenden Umgang damit zu finden, ist ein zäher und langfristiger Prozess.
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