Bodelschwingh-Haus

Vom Chaos in die Struktur

"Wahnsinn. Total ruhig": Martin Kneißl* lebt in einer Außenwohngruppe des Bodelschwingh-Hauses im Münchner Südwesten. Foto: Florian Naumann

Das Bodelschwingh-Haus uns seine Außenwohngruppen geben wohnungslosen Männern, die Chance wieder Struktur und Halt zu finden. Ein Bewohner im Porträt.

Ein Haus im grünen Südwesten Münchens ist seit einem guten halben Jahr Martin Kneißls* Zuhause. Eines, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren zuhauf gebaut wurden: Genug Platz für zwei Familien und hinter einem Holzzaun ein gepflegter Garten. "Strukturiert" könnte man dieses Viertel nennen. Und zur Struktur gehört, dass an einem frühen Dienstagvormittag Anfang Oktober freundliche Stille über den Straßen liegt: Die meisten Bewohner sind zur Arbeit gegangen.

Martin Kneißl ist zu Hause. Aber nur, weil eine Spätschicht auf ihn wartet. Um 14.30 Uhr wird er bei einem Lieferdienst seine Arbeit antreten. Eine verantwortungsvolle noch dazu: Kneißl wird die Schicht der Kuriere leiten. Dementsprechend hat er heute ein wenig länger geschlafen. Nun grüßt er mit einem etwas abwartenden, leicht verschmitzten Blick und im bequemen Pullover im Flur des Hauses. Das Bodelschwingh-Haus des Evangelischen Hilfswerkes hat hier eine Außenwohngruppe. Die Bewohner sind Menschen, die nach Erfahrungen mit Kriminalität oder der Obdachlosigkeit in einem sicheren Raum wieder auf ihren Weg finden sollen.

Zu Beginn der Corona-Pandemie gerät sein Leben aus den Fugen

Das ist der Unterschied zu den meisten der Nachbarhäuser. Eine Gemeinsamkeit ist aber zumindest in Kneißls Fall wieder das Thema "Struktur". Etwa zu Beginn der Corona-Pandemie war sein Leben aus den Fugen geraten. Nicht plötzlich, aber offenbar auf recht überwältigende Weise. "Chaotisch, total chaotisch" nennt der 39-Jährige selbst diese Phase.

Er habe "beinahe keinen Bock mehr" gehabt. Diese Zeit steht in Kontrast zu seinem Leben im und mit dem Bodelschwingh-Haus. Kneißl ist kein Mensch, der sich gerne in den Mittelpunkt stellt, das wird im Gespräch schnell klar. Bei einer Tasse Kaffee im Büro der Hauses – dem Arbeitsplatz von zwei Sozialpädagog*innen – berichtet er bereitwillig von seiner Lebensgeschichte. Auf weitschweifige Schilderungen verzichtet er aber. Der gebürtige Österreicher hält sich lieber an Fakten und Fazite.

Mal hier und mal dort geschlafen

Sie lauten in etwa so: Aufgewachsen im Münchner Umland landete Kneißl ohne Ausbildung im Arbeitsleben. Doch Anfang der 20er-Jahre gerät etwas in Schieflage: Es gibt eine Geldstrafe, Finanznöte, er hat keine feste Bleibe mehr. Er sei wohnungslos geworden, berichtet Kneißl. "Oder eher: Ich habe mal hier und mal dort geschlafen." Ein entscheidender Nackenschlag dabei: Sein Arbeitgeber, ein Unternehmen aus dem Bereich der Messe-Ausstattung, muss zu Beginn der Corona-Krise schließen. "Es fanden ja keine Messen mehr statt", sagt der 39-Jährige. Eine bedrohliche Gesamtlage. Aber ein Wendepunkt tut sich auf: Bei der Münchner Zentralstelle für Straffälligenhilfe (MZS) erhält Kneißl im Frühjahr 2021 einen Tipp. In einem Gespräch, das sich eigentlich um eine mögliche Umwandlung der Geldstrafe in Sozialstunden dreht, erfährt er vom Bodelschwingh-Haus; einem Anlaufpunkt für Hilfe in seiner Wohnungsnot.

"Es ist immer jemand da, der helfen kann."

Der Weg zu externer Hilfe könnte Überwindung gekostet haben, das deutet Kneißl zumindest an. "Ich habe mich lange nicht so getraut", sagt er. Einmal ans Bodelschwingh-Haus gewendet, geht es aber schnell: Ein unkompliziertes Gespräch, "zwei Tage später konnte ich gleich einziehen", erinnert sich Kneißl. Ein Zimmer auf einer Etage mit sechs weiteren Menschen bezieht er, Küche und Bad werden geteilt. Ein wenig "Eingewöhnung" habe er gebraucht, räumt er ein. Mit den Mitbewohnern habe es aber freundschaftlichen Kontakt gegeben, "man tauscht sich aus", sagt Kneißl, "Ärger" gab es nie. Und, vielleicht noch wichtiger: "Es ist immer jemand da, der helfen kann. Das ist gut."

Aus dem "Chaos" findet Kneißl im Bodelschwingh-Haus recht schnell zurück in eine Struktur: Er selbst entdeckt das Stellenangebot des Lieferdienstes. Von seinem ersten Posten als Fahrradkurier aus erarbeitet er sich zwei Beförderungen: "Eine schöne Bestätigung", sagt Kneißl – wenngleich er das Fahrradfahren vermisst. Im April 2022 folgt der nächste Schritt: Der vom großen Haus im Bahnhofsviertel in das wesentlich kleinere im Münchner Südwesten. "Schön" sei das, sagt Kneißl: "Wahnsinn, total ruhig. Im Sommer grillen wir auch mal mit den Mitbewohnern", berichtet er und weist mit dem Kopf auf die gepflegte Sitzgarnitur vor der Terrassentür.

Weiterdenken in die Zukunft

Nebenan, in der Küche, sitzt Benedikt Moll*. Der Sozialpädagoge ist eine von zwei regulären Ansprechpersonen Kneißls und seiner Mitbewohner. Am Küchentisch werden Einkaufszettel geschrieben, Putz- und Kochpläne hängen an der Wand. Jeden Tag zwischen etwa 8.30 und 18 Uhr ist hier eine Bezugsperson ansprechbar. Die Tür zwischen den beiden Räumen und dem restlichen Haus stehe immer offen, sagt Moll.

Wie er Kneißl wahrnimmt? "Herr von und zu Kneißl", neckt Moll mit einem Augenzwinkern, habe sich zunächst "vorsichtig" und zurückhaltend eingelebt. Kneißl blättert derweil scherzhaft-demonstrativ in einer Zeitschrift. Nach einer Phase des Rückzugs habe sich der 39-Jährige aber gut in das Leben im Haus eingefunden. Und zum Beispiel sein Zimmer und dessen Einrichtung auf beispielhafte Weise, genau, strukturiert.

Das (Wieder-)Ankommen ist also in mehrerlei Hinsicht geglückt. Kneißl will sich nun zunächst aber weiter stabilisieren, wie er sagt. Eine geordnete Privatinsolvenz steht an. Bis zur Überwindung seiner sozialen Schwierigkeiten kann er seinen Platz im Haus im Grünen nutzen. "Irgendwann in der nächsten Zeit" will er weiterdenken, über eine Zukunft jenseits des Bodelschwingh-Hauses, in Richtung einer eigenen Wohnung. "Aktuell geht es mir aber sehr gut", meint er. "Ich bin wirklich für jeden Tag dankbar, den ich in dieser Einrichtung verbringen durfte, meine Sozialberater und -beraterinnen waren und sind bis dato megalieb."

An diesem Septembertag wird es aber zunächst mit WG-Leben weitergehen. So, wie es auch an ganz vielen anderen Orten in der Millionenstadt München passiert. Zur Runde mit Moll schlurft ein weiterer Haus-Bewohner in die Küche. Die Kaffeemaschine ist das Ziel. "Du", wendet er sich an Kneißl, "kann ich mir heute dein Fahrrad leihen?" Der schaut hoch und lacht. "Wann denn?", fragt er zurück. Schließlich steht noch der Weg zur Arbeitsschicht an. Und die Bewegung auf dem Rad gehört ja zu seinen Hobbys.

*Namen geändert.


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