"Die Zeit für eine ernstgemeinte, umfassende und schlagkräftige Pflegereform drängt!"
Fragen und Antworten zum neuen PeBeM
Die Hilfe im Alter gGmbh der Diakonie München und Oberbayern bereitet sich intensiv auf das neue Personalbemessungsverfahren (kurz: PeBeM) vor. Das Verfahren löst ab dem 1. Juli 2023 die bisherige Fachkraftquote in der stationären Langzeitpflege ab.
Die Hilfe im Alter gGmbh der Diakonie München und Oberbayern bereitet sich intensiv auf das neue Personalbemessungsverfahren (kurz: PeBeM) vor. Das Verfahren löst ab dem 1. Juli 2023 die bisherige Fachkraftquote in der stationären Langzeitpflege ab und wird die Organisation in der stationären Langzeitpflege neu ordnen.
Das neue PeBeM hat weitreichende Konsequenzen für die Pflegebranche. Dr. Bernhard Opolony, Leiter der Abteilung Pflege im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, und Dirk Spohd, Geschäftsführer der Hilfe im Alter gGmbH, beantworten drängende Frage aus der jeweiligen Perspektive von Politik und Träger.
Dr. Bernhard Opolony ist Leiter der Abteilung Pflege im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege. Er war einer der Referenten auf dem Fachtag, den die Evangelische PflegeAkademie zum neuen PeBeM organisiert hatte. Foto: Michaela Rehle
Der Rothgang-Abschlussbericht geht bis 2030 von einem zusätzlichen Mehrbedarf von mehr als 100.000 Vollzeit-Pflegekräften aus, wenn das neue PeBeM voll greift. Vor allem ausgebildete Assistenzkräfte werden dann fehlen. Insgesamt gehen die Berechnungen für 2030 von einer Personallücke von 186.000 Mitarbeitenden aus. Dabei wird auch der demografische Wandel berücksichtigt. Wie wollen Sie die fehlenden Pflegekräfte gewinnen?
Dr. Bernhard Opolony, StMGP: Angesichts des demographischen Wandels und des weltweiten branchenübergreifenden Personalbedarfs erscheint mir eine Debatte darüber, wie Arbeitgeber mehr Personal gewinnen können zu eindimensional. Neben guter Ausbildung, verstärkten Maßnahmen der Mitarbeiterbindung und der Gewinnung von Mitarbeitenden aus dem Ausland, sollten wir den Blick z.B. auch auf eine Senkung der Arbeitsunfähigkeitsquoten richten. Die Überlegungen von Prof. Rothgang beziehen konsequent auch Maßnahmen der Organisationsentwicklung ein, zu der auch Maßnahmen der Digitalisierung gehören. Eine Organisationsentwicklung, die zu einer stärkeren Abgrenzung von Aufgaben und Tätigkeiten in den Einrichtungen einerseits und zu einem größeren Qualifikationsmix sowie einer multiprofessionellen Zusammenarbeit andererseits führt, ist auch ein Beitrag zu einer Herausbildung der Profession Pflege, was wiederum zu einer Attraktivitätssteigerung des Berufs beitragen kann.
Dirk Spohd, HiA: Ich kann mir sogar vorstellen, dass die Zahl in Zukunft noch höher steigen wird als befürchtet, denn wir können nicht ausschließen, , dass ohne weitgehende Pflegereform weitere Arbeitnehmer*innen der Pflege den Rücken kehren werden. Als Hilfe im Alter tun wir einiges, um die Situation zu verbessern: Wir setzen auf eine gute und praxisnahe Ausbildung von Pflegefachkräften und Pflegehelfer*innen in unserer eigenen PflegeAkademie sowie auf eine intensive Fort- und Weiterbildung des bestehenden Personals. Mitarbeiter*innen und Schüler*innen, die wir selbst ausgebildet haben, sind wichtige Garanten für unsere Pflegequalität. Zusätzlich arbeiten wir mit zahlreichen Partner*innen aus dem Ausland zusammen und rekrutieren bereits im Herkunftsland Pflegefachkräfte und Auszubildende. Mit unserer Fachstelle Vielfalt investieren wir sehr bewusst in die Integration dieser Mitarbeiter*innen und begleiten sie über den beruflichen Alltag hinaus, z.B. bei der Wohnungssuche. Außerdem versuchen wir, sinnvolle Digitalisierungsstrategien zu erproben, um Pflege hier auf das 'next level' zu heben.
Wie müssen sich Pflegeeinrichtungen verändern, damit sie fit für die Zukunft sind?
Dr. Bernhard Opolony, StMGP: Im Wettbewerb um Personal werden nach meiner Überzeugung diejenigen die besten Chancen haben, die sinnstiftende Tätigkeiten, eine wertschätzende Arbeitsumgebung und Entwicklungsmöglichkeiten bieten können. Ich bin überzeugt, dass Pflegeeinrichtungen vom Grunde her in allen drei Bereichen ein hohes Potential haben, das sie durch konsequente Organisationsentwicklung gemeinsam mit den Beschäftigten heben können. Ein Schlüssel liegt hierbei in der Professionsentwicklung und der Bildung multiprofessioneller Teams.
Dirk Spohd, HiA: Die Einrichtungen sind jetzt gefragt die guten Ideen und neuen Möglichkeiten aus dem Rothgang-Gutachten in die Praxis umzusetzen. Dieser umfassende Organisationsentwicklungsprozess will sauber geplant, bedacht und kommuniziert sein, damit sich die Arbeitsbedingungen tatsächlich zum Positiven ändern. Ganz entscheidend wird dabei sein, ob es gelingen kann, unter den aktuell sehr schwierigen Rahmenbedingungen die geforderten Fach- und Assistenzkräfte zu gewinnen.
Der Fachtag der Evangelischen PflegeAkademie (Bereich Personalentwicklung) beschäftigte sich mit den Konsequenzen des neuen PeBeM. Foto: Michaela Rehle
Und wie müssen sich die politischen Rahmenbedingungen verändern?
Dr. Bernhard Opolony, StMGP: Es bedarf einer Flexibilisierung des Leistungsrechts der Pflegeversicherung, damit Organisationsentwicklung und die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze nicht an den Sektorengrenzen der Sozialgesetzbücher Halt machen muss. Eine Auflösung der Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Leistungserbringung, wie in dem Reformkonzept von Staatsminister Holetschek gefordert, würde den Personaleinsatz nicht an den Abrechnungsmodalitäten ausrichten, sondern eine höhere Flexibilität und die Verschränkung der bisherigen Pflegesettings ermöglichen. Das würde Reibungsverluste mindern und den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen ebenso entgegenkommen wie dem Wunsch nach abwechslungsreicher Tätigkeitsgebieten.
Nachhaltige Organisationsentwicklung setzt zeitliche und finanzielle Kapazitäten voraus, die so noch nicht immer ausreichend zur Verfügung stehen. Die Förderansätze des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege und der Pflegekassen sind ein wichtiger Ansatz, aber können nicht flächendeckend zum Einsatz kommen. Hier bedarf es weiterer Unterstützung in der Fläche. Wenn es ein bundesweites Personalbemessungssystem gibt, das erhebliche Anforderungen an die Entwicklung der Einrichtungen stellt, sollte dies auch durch ein bundesweites Programm unterstützt werden.
Buchstäblich alle Akteure sind zudem gefragt, an der Entstehung einer gemeinsamen Vertrauens- und Verantwortungskultur mitzuwirken, die den fachlichen Diskurs auf Augenhöhe ermöglicht. Nur so können die Herausforderungen und der Spagat zwischen Versorgung und Schutz des Einzelnen gemeinsam bewältigt werden.
Dirk Spohd, HiA: Das Gutachten von Prof. Rothgang hat klar den notwendigen Personalmehrbedarf aufgezeigt. Dieses Ergebnis ist jetzt von allen Beteiligten nachhaltig zu sichern. Das heißt: Gesetzgeber, Krankenkassen, Bezirke und Träger müssen gemeinsam und verbindlich neue und verlässliche Rahmenbedingungen auf Basis des Rothgang-Gutachtens entwickeln. Es gibt aus meiner Sicht keine Erkenntnisprobleme, sondern massive Umsetzungsdefizite. Ob der seit langem geforderte Sockel-Spitze-Tausch, der die Heimkosten für die Pflegebedürftigen begrenzen würde, die Beschränkung der Leiharbeit, eine auskömmliche Finanzierung der Betreiber oder die schon seit Jahren geforderte Entbürokratisierung der Pflege – überall geht die Entwicklung zu langsam voran. Die Zeit für eine ernstgemeinte, umfassende und schlagkräftige Pflegereform drängt!
Pflegefachkräfte, haben sich häufig für ihren Beruf entschieden, weil sie direkt mit Menschen arbeiten wollen. Bewohner*innen wünschen sich zudem eine qualifizierte und auf Vertrauen basierende Bezugspflege. Wird nicht genau das fehlen, wenn Fachkräfte vor allem Managementaufgaben übernehmen?
Dr. Bernhard Opolony, StMGP: Weder habe ich das Konzept der Bezugspflege bisher so verstanden, dass sämtliche pflegerischen und betreuenden Handlungen von der Bezugspflegekraft übernommen werden sollen, noch habe ich das Pflegeverständnis des Pflegeberufegesetzes und der Personalbemessung so interpretiert, dass sich der Einsatz von Pflegefachpersonen auf Managementaufgaben beschränkt. Kernaufgabe der Tätigkeit von Pflegefachpersonen soll die Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses sein. Sowohl die Erhebung des Pflegebedarfs als auch die Planung, Gestaltung und Steuerung des Prozesses als auch die Evaluation der Ergebnisse erfordern meines Erachtens einen engen Bezug der Pflegefachkraft zu den Pflegebedürftigen und intensive Kommunikation. In diesen Aushandlungsprozessen liegt meines Erachtens auch erhebliches Potential für eine gelingende Bezugspflege.
Dirk Spohd, HiA: Das neue Personalbemessungssystem soll ja nicht dafür sorgen, dass niemand mehr Zeit mit den Bewohner*innen verbringt und nur noch Managementaufgaben erfüllt. Genau das Gegenteil ist im Idealfall gewollt, da die Personalmenge insgesamt ja erhöht wird. Wenn die Idee von Prof. Rothgang greift, dann wird durch die Verteilung der Zuständigkeiten auf verschiedene Qualifikationsniveaus die Pflege der Zukunft passgenauer gemacht und dadurch professionalisiert. Das ist ein gutes Signal für die gesamte Branche und hat automatisch eine Aufwertung des Berufs Pflegefachmann/-frau zur Konsequenz.
Herr Spohd, das neue Personalbemessungsverfahren startet offiziell zum 1. Juli 2023. Wie werden Sie die Einführung bei der Hilfe im Alter angehen?
Dirk Spohd, HiA: Wir freuen uns sehr darüber, dass wir eines von vier geförderten Projekten des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege sind. Gemeinsam mit der Hochschule München werden wir mit zwei Projekteinrichtungen der Hilfe im Alter gGmbH die Umsetzung und möglichen Organisationsformen erproben und wissenschaftlich begleiten lassen. Unser Ziel ist es, die Lebensqualität der Bewohner*innen sowie die Arbeitsqualität der Mitarbeiter*innen weiter zu erhöhen. Gleichzeitig möchten wir für die Umsetzung des neuen Personalbemessungssystems eine Art 'Blaupause' für andere Träger entwickeln.
Diakonie München und Oberbayern - Innere Mission München e.V.
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