"Wenn ich als Kind nicht helfen konnte, dann wenigstens jetzt"
Porträt Esmir Ramic
![Ein Bild der Familie von Flüchtlings- und Integrationsberater Esmir Ramic. Bild: Privatarchiv Esmir Ramic](/images/dmo/news/2403/EsmirRamic02.jpg)
Als Flüchtlings- und Integrationsberater bei der Diakonie München und Oberbayern unterstützt Esmir Ramic Menschen, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und nun in Deutschland Schutz suchen. Seine persönliche Lebensgeschichte verschafft ihm dabei einen besonderen Zugang zu dem Thema Flucht.
Als Esmir im Jahr 2017 aus Bosnien nach Deutschland kam, steht er vor enormen Herausforderungen. Alles ist neu für ihn - sowohl die Sprache, die er jedoch bereits zu lernen begonnen hatte, als auch die Kultur.
"Die ersten Monate waren wirklich die härtesten. In diesem fremden Land, in dem Pünktlichkeit eine große Rolle spielt und andere Regeln gelten, verspürte ich ständig den Druck, die Anforderungen für eine erfolgreiche Integration zu erfüllen", erinnert sich Esmir Ramic.
Zusätzlich zu seinem Sprachkurs beginnt Esmir sofort einen Minijob in der Reinigungsbranche. "Nicht, weil ich musste, sondern weil ich aktiv sein wollte. Ich wollte zeigen, dass ich fleißig und engagiert bin", erklärt er.
Schließlich findet er eine feste Anstellung. In seinem Heimatland hatte Esmir ein Studium der Soziologie abgeschlossen, welches er mit einem Master zum Thema "Junge Bosnier in Deutschland" erweiterte. Mit der Zeit festigt sich in Esmir der Gedanke, mit geflüchteten Menschen zu arbeiten. "Es war ein Bauchgefühl. Immerhin war ich selbst in einer ähnlichen Situation", beschreibt er.
Er beginnt in der Beratung von geflüchteten Menschen zu arbeiten - insbesondere seit dem Beginn der Ukraine-Krise berät er vermehrt Menschen, die aus diesem Grund fliehen mussten. Als 2022 im Landkreis München eine Unterkunft für geflüchtete Menschen aus der Ukraine eröffnet, übernimmt er die Sozialberatung. Dank seiner sprachlichen Begabung spricht er zu diesem Zeitpunkt bereits relativ gut russisch. Die Unterkunft wächst schnell, bis er schließlich für 250 Menschen innerhalb der Unterkunft und weitere 100 Menschen außerhalb zuständig ist. "Der Job ist sehr anspruchsvoll. Ich berate viele Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und die Geschichten berühren mich zutiefst. Ich kann mich in die Menschen hineinversetzen", erklärt Esmir. Dennoch überwiegt das Positive. "Wenn ich am Ende des Tages ein aufrichtiges Dankeschön erhalte und in die strahlenden Augen meiner Klient*innen sehe, ist das meine Belohnung. Das ist meine Leidenschaft, und das erfüllt mich", fügt er hinzu.
Esmir wird 1991 in Bratunac im Osten von Bosnien und Herzegowina geboren. Die kleine Stadt liegt nur zehn Kilometer entfernt von Srebrenica, wo sich 1995 ein Massaker ereignete, das heute als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gilt. Kurz darauf wird seine Familie im Rahmen des Bosnienkriegs vertrieben. Etwa 100.000 Menschen sterben bei diesem Krieg.
Esmirs Vater wird von serbischen Streitkräften festgenommen und kommt in ein Kriegsgefangenenlager. Die Mutter findet mit ihren Kindern Schutz in einem Lager für geflüchtete Menschen. "Meine Mutter wusste nicht, was meinem Vater zugestoßen war", erinnert sich Esmir an schmerzhafte Erinnerungen an eine Zeit, die von Angst und Unsicherheit geprägt war. Die Familie lebt am Existenzminimum. Schließlich kann Esmirs Vater in einem Gefangenenaustausch freikommen.
Heute unterstützt Esmir in seiner Arbeit Menschen, die ebenfalls fliehen mussten. "Wenn ich als Kind nicht helfen konnte, dann wenigstens jetzt", sagt er.
"Ehrlich gesagt, am Anfang war es wirklich hart, diese schrecklichen Geschichten jeden Tag zu hören. Am Ende des Tages fühlte ich mich einfach nur leer." Aber er habe einen Weg gefunden, damit umzugehen. Jetzt nehme er die Erlebnisse des Tages nicht mit nach Hause.
Natürlich gibt es immer wieder Themen, die ihn besonders berühren, erklärt Esmir. Zum Beispiel die Geschichte eines Vaters, der seine Frau und sein Kind acht Jahre lang nicht gesehen hat.
"Manchmal sehe ich Parallelen zu meiner eigenen Geschichte. Auch ich habe erleben müssen, wie es sich anfühlt, nicht zu wissen, wie es meiner Familie geht. Außerdem habe ich selbst Kinder", beschreibt Esmir. Dadurch könne er die Menschen besser verstehen.
Jeden seiner Urlaube verbringt er bei seiner Familie in Bosnien. Drei- oder sogar viermal im Jahr ist er dort. "Durch meine Arbeit habe ich mich selbst und meine Geschichte besser kennengelernt.“
Der 33-Jährige erzählt: "Meine Arbeit bei der Diakonie München und Oberbayern hat mir eine Perspektive gegeben. Ich bin dankbar für das Leben, das ich heute führen kann.“
Diakonie München und Oberbayern - Innere Mission München e.V.
Landshuter Allee 40
80637 München