"Manchmal reicht es, an kleinen Stellschrauben zu drehen"

Psychotherapeutische Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter

Sharon Schumann steht mit verschränkten Armen lächelnd vor einer Glastür.
"Täterarbeit ist in erster Linie Opferschutz", betont Sharon Schumann im Interview. Foto: Michael McKee

Sharon Schumann leitet die Psychotherapeutische Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter des Evangelischen Hilfswerks. Im Interview berichtet sie über ihre Arbeit.

Frau Schumann, Sie sind Psychologische Psychotherapeutin und leiten seit dem vergangenen Jahr die Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter des Evangelischen Hilfswerks. Wie erklären Sie Menschen Ihren Beruf, die nichts mit Therapien oder Sozialer Arbeit zu tun haben?

Psychotherapie per se lässt sich immer ganz gut erklären: Wenn man sich ein Bein bricht, würde man ja auch zum Arzt oder zur Ärztin gehen. Und wenn man ein seelisches Leiden hat, dann geht man eben zum Psychotherapeuten beziehungsweise zur Psychotherapeutin, um eine Verbesserung der seelischen Zufriedenheit zu erreichen und weniger Einschränkungen im Alltag zu erleben.

Und Ihre Arbeit in der Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter? Da läuft bei vielen Leuten sicher ein Film im Kopf ab.

Es ist immer wichtig, sich bewusst zu machen, dass Täterarbeit in erster Linie Opferschutz bedeutet. Das ist der Kern unserer Arbeit. Indem wir uns den Täter*innen als Menschen zuwenden, senken wir nachgewiesenermaßen das Risiko für neue Straftaten. Dazu gehört dann eine psychotherapeutische Behandlung, aber auch sozialpädagogische Unterstützung bei Alltagsaufgaben oder zum Beispiel bei der Wohnsituation.

Wie sieht das konkret aus?

In der Regel kommen die Proband*innen nach einer Inhaftierung oder mit einer Bewährungsstrafe zu uns. Meist hat ein Gericht die Therapie angeordnet. Das heißt, die Proband*innen kommen zunächst nicht freiwillig - und das merkt man oft auch. Am Anfang studieren wir die Akten sehr genau. Wir bekommen die Unterlagen vom Gericht und schauen: Was steht im Urteil? Welche Behandlungen sind schon erfolgt?

Auf Basis der Akten und einem persönlichen Gespräch nehmen wir dann eine Risikoeinschätzung vor. Wir überlegen im Team, welche Lebensbereiche wir uns in der Therapie intensiv mit der Person ansehen müssen und welche Interventionen Sinn machen. Braucht jemand zum Beispiel Einzelgespräche bei unseren psychotherapeutischen Kolleg*innen oder ist eine sozialpädagogische Anbindung sinnvoll? Wir verfügen aber auch über ein breites Angebot ambulanter Gruppentherapien, die auf bestimmte Täter*innengruppen spezialisiert sind. Die Patient*innen sehen ihre Therapeut*innen in der Regel einmal in der Woche. Sie*er ist seine Hauptansprechperson. Die Teamarbeit läuft vor allem im Hintergrund.

Welche Menschen kommen zu Ihnen?

Das Spektrum ist wirklich breit. Wir haben relativ häufig Konsument*innen von Kindermissbrauchsabbildungen, aber auch Missbrauchstäter*innen und Personen, die wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung verurteilt wurden. Im Bereich Gewalt behandeln wir zum Beispiel Personen, die wegen Körperverletzungsdelikten in Haft waren. Wir haben aber auch Täter*innen, die wegen Totschlags oder Mord zu uns kommen.

Wie ist es solchen Menschen gegenüber zu sitzen und sich bewusst zu sein: Der hat ein Menschenleben auf dem Gewissen?

Ich persönlich denke, das ist etwas, was man lernen kann. Es geht dabei darum, die Balance halten zu können, zwischen dem Sich-bewusst-sein was für eine Gefährlichkeit bei dem Gegenüber vorhanden ist und einer zugewandten, interessierten Haltung. Man muss die Fähigkeit haben, einen Menschen nicht nur auf sein Delikt zu reduzieren, sondern ihn im Ganzen zu betrachten.

Was passiert, wenn ein*e Proband*in die Therapie von sich aus abbricht oder überhaupt nicht motiviert ist. Die Person müsste dann zurück ins Gefängnis, oder?

Das ist nicht unsere Entscheidung. Wir melden einen Therapieabbruch an das Gericht weiter. Eine erneute Inhaftierung liegt letztlich im Ermessen der Justiz.

Sie haben jetzt immer von Patient*innen gesprochen. Inwieweit sagen Sie, dass die Menschen psychisch krank sind, die diese Taten begehen?

Grundsätzlich gilt: Psychische Erkrankung bedeutet nicht gleich Straftat. Die überwiegende Mehrheit der Personen, welche psychisch erkrankt sind, werden niemals straffällig. Wir haben aber natürlich einen Anteil an Patient*innen mit Persönlichkeitsstörungen oder auch Suchterkrankungen. Gerade im Bereich Sexualstraftaten gibt es viele mit sexuellen Präferenzstörungen. Bei manchen tritt begleitend auch eine Angststörung oder Depression auf. Wir erleben aber auch einen großen Teil von Proband*innen, die tatsächlich keine psychiatrische Diagnose mitbringen. Bei allen Menschen, die zu uns kommen, geht es primär um eine forensische Psychotherapie, das heißt eine Risikominimierung. Der Fokus liegt nicht auf einer klassischen Heilbehandlung, sondern wir prüfen, welche Risikofaktoren bei demjenigen*derjenigen die Gefahr für weitere Straffälligkeit erhöhen. Wenn nach unserer Einschätzung eine psychische Erkrankung dieses Risiko erhöht, dann behandeln wir sie mit.

Welche weiteren Risikofaktoren gibt es? Also zum Beispiel, mit welchen Menschen lebt derjenige*diejenige zusammen?

Genau. Wir nennen das den sozialen Empfangsraum. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass jemand in einem hochkriminellen Umfeld lebt. Es kann aber auch heißen, dass jemand einen Mangel an sozialen Kontakten hat, viel Einsamkeit erlebt oder dass er ein emotionales Kontrollproblem hat, Ärger nicht äußern kann oder immer impulsiv reagiert, wenn etwas schiefläuft. All das kann das Risiko erhöhen, erneut straffällig zu werden.

Stimmt es, dass unter den Täter*innen Männer deutlich stärker repräsentiert sind?

Wir haben tatsächlich fast ausschließlich Männer in der Behandlung und nur in seltenen Fällen werden Frauen zu uns geschickt und dann eher im Bereich Gewaltstraftaten. Im Bereich Sexualstraftaten sind Frauen – statistisch gesehen – eher Exotinnen. Grundsätzlich werden Frauen deutlich weniger verurteilt.

Gibt es bestimmte Muster, die sich bei den Täter*innen ähneln?

Es gibt biografische Probleme, die bei Gewalt- und Sexualstraftäter*innen häufiger beobachtet werden. Zum Beispiel Bindungstraumatisierungen. Aber jede*r Proband*in ist individuell. Wir haben in den Fachambulanzen alle gesellschaftlichen Schichten vertreten: vom Arzt bis zur Ungelernten.

Die Fachambulanz richtet sich an Sexual- und Gewaltstraftäter*innen. Wie ist das prozentuale Verhältnis?

Ungefähr 70 Prozent unserer Proband*innen sind Sexualstraftäter*innen. Das ist auch historisch so gewachsen. Die Fachambulanz für Sexualstraftäter*innen gibt es schon länger, die Ambulanz für Gewaltstraftäter*innen ist später dazu gekommen. Man muss auch sagen, dass Gewaltstraftäter*innen tendenziell schwerer anzubinden sind, da sie tendenziell impulsiver sind und mehr Behandlungsabbrüche haben als Menschen, die eine Sexualstraftat begangen haben.

Es gibt häufig den Vorwurf, dass zu viel für die Täter*innen und zu wenig für die Betroffenen von Gewalt- und Sexualstraftaten getan wird. Gibt es von Ihrer Seite Angebote für die Betroffenen?

Es ist enorm wichtig, dass die Betroffenen von Gewalt- und Sexualstraftaten rasch Zugang zu einer psychotherapeutischen Behandlung bei spezialisierten Therapeut*innen bekommen. Hier gibt es viel zu lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz. Meines Erachtens ist sehr sinnvoll, die Angebote für Betroffene und Täter*innen ganz klar zu trennen. Ich persönlich finde die Vorstellung aus Sicht einer betroffenen Person unangenehm. Stellen Sie sich vor, eine missbrauchte Frau müsste möglicherweise neben einem Täter im Wartezimmer sitzen.

Viele Täter*innen bekommen vom Gericht die Auflage, eine Therapie zu machen. Es ist aber schwierig, überhaupt einen Platz zu finden. Woran liegt das?

Man muss sich immer überlegen: Als Therapeut*in bekommt man immer das gleiche Geld – egal ob da jemand mit einer Angststörung sitzt oder jemand, der eine Straftat begangen hat. Die Menschen, die zu uns kommen, sind sicher schwieriger zu versorgen. Sie sind oft unzuverlässiger, sagen keine Termine ab. Also allein rein ökonomisch hat die Begleitung der Patient*innen in einer Praxis große Nachteile – unabhängig von der Qualifikation, die vielen Therapeut*innen auch einfach fehlt.

Welche Zusatzausbildung braucht man denn, um als Psycholog*in, mit diesen Menschen zu arbeiten?

Es gibt tatsächlich keine Zusatzausbildung, bei der man ein allgemein gültiges Zertifikat bekommt. Grundsätzlich ist es sehr hilfreich, sich im Bereich Persönlichkeitsstörungen fortzubilden. Außerdem sollte man sich mit den Grundlagen des Rechtssystems und der Justiz beschäftigen, allein schon, um die Begrifflichkeiten zu kennen. Hinzu kommt der ganze Bereich der Risikoeinschätzung und forensischen Psychotherapie. Also: Welche Risikofaktoren gibt es? Welche Spezialinterventionen gibt es? Ich würde allen empfehlen, die in diesem Bereich arbeiten wollen, Praktika zu machen und gezielt Fortbildungen zu besuchen, immer am Ball zu bleiben – und ganz wichtig – sich mit Kolleg*innen auszutauschen.

Auf welches Mindset achten Sie bei Bewerber*innen im Vorstellungsgespräch?

Es ist wichtig, dass sich jemand gut selbst reflektieren kann. Es geht darum zu differenzieren: Was ist das Thema des Patienten und was sind meine eigenen Werte - also: Gelingt es mir, jemandem vorurteilsfrei zu begegnen? Und ich finde es ganz ausschlaggebend, dass jemand neugierig ist, Zusammenhänge herauszufinden. Und ein bisschen optimistisch sollte man sein.

Ein bisschen?

Man braucht schon eine gewisse Frustrationstoleranz. Es ist natürlich schon etwas anderes, mit diesem Klientel zu arbeiten als nur mit freiwilligen Patient*innen, die weniger schwer beeinträchtigt sind. Diese Leute kommen sehr viel zuverlässiger, engagieren sich auch in der Freizeit, um einen Therapieerfolg zu haben. Unsere Patienten machen das nicht unbedingt.

Wie war denn ihr persönlicher Weg?

Also ehrlich gesagt, wollte ich ursprünglich gar nicht Psychologie studieren, sondern Musik. Da habe ich aber nicht sofort einen Studienplatz bekommen und mich stattdessen erstmal für Psychologie beworben. Dann habe ich gemerkt: Das ist ja eigentlich ganz spannend. Mich fasziniert, die Komplexität von Systemen zu verstehen und ich interessiere mich dafür, wie menschliche Beziehungen funktionieren. Manchmal reicht es, an kleinen Stellschrauben zu drehen, um viel zu verbessern. Ich beschäftige mich gerne mit Menschen.

Gab es schon einmal jemanden, der sich bei Ihnen bedankt hat?

Ja, schon häufiger - das finde ich auch sehr rührend. Manchmal bekomme ich auch eine Dankeskarte, die hebe ich unbedingt auch auf. Ich freue mich darüber, wenn ich die Patient*innen ein Stück auf dem Lebensweg begleiten konnte und sie merken, dass sie von der Therapie profitiert haben.

Zur Person

Sharon Schumann studierte Klinische Psychologie und kognitive Neurowissenschaften an der LMU München und schloss ihre Approbation an der AVM München (Arbeitsgemeinschaft für VerhaltensModifikation) ab. Neben Anstellungen in verschiedenen forensischen Kliniken betätigt Sie sich als forensische Gutachterin, Dozentin und Supervisorin. Seit 2022 ist sie Teil der Psychotherapeutischen Fachambulanz, die sie seit 2023 auch leitet. Privat führt sie eine kleine private Praxis.

 


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